Veranstaltungsberichte

Ein Europa-Appell aus Kosovo

Der Premierminister von Kosovo, Albin Kurti, hat vor der SGA in Bern die europäisch-westliche Orientierung seines Landes betont und mit Nachdruck zu einer engeren Solidarität gegen Autokratien aufgerufen. Serbiens Politik bezeichnete er in dieser Hinsicht als Hindernis und als regionale Gefahr.

Kosovo ist mit der Schweiz besonders durch Hunderttausende von Ausgewanderten und Nachkommen von solchen verbunden. Die Veranstaltung in Bern, zu der Nationalrat Jon Pult als Präsident der SGA den Regierungschef Albin Kurti begrüsste, galt indessen vor allem der Situation und Rolle des jungen Staats in der Region und ganz Europa. Speziell im Kontext der Wiederentstehung geopolitischer Machtformationen sind die Entwicklungen im Westbalkan auch für die Schweiz von erheblicher Bedeutung. Andreas Ernst, Redaktor und früherer Balkan-Korrespondent der NZZ, führte als Moderator den 49jährigen Gast ein als seinerzeitigen Anführer der Bewegung gegen das Uno-Protektorat über Kosovo. Aussergewöhnlich sei Kurti auch wegen der Bezüge seiner Praxis zur Theorie und wegen seiner Immunität gegen materielle Versuchungen. Seit 2021, als seine Partei Vetevendosje in Wahlen die Mehrheit errang, ist er, wie kurze Zeit im Vorjahr, Premierminister.

Fortschritte eines jungen Staats

Kurti präsentierte Kosovo als politisch modernisiertes und wirtschaftlich rasch voranschreitendes Land. Werte wie Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Menschenrechte und Marktwirtschaft würden nicht einfach im Streben nach Mitgliedschaft in der Europäischen Union hochgehalten, sondern weil man daran glaube. Die Fortschritte im Kampf gegen die Korruption würden von den einschlägigen Organisationen anerkannt. Ökonomische Erfolgszahlen sind ein Wachstum von je 6 Prozent in den letzten drei Jahren, im Verhältnis zum BIP hohe Direktinvestitionen aus dem Ausland und ein Rückgang der Arbeitslosigkeit innert zweier Jahre von 26 auf 11 Prozent.
Diese Entwicklung hänge stark von der Jugend, den Frauen und der Diaspora ab, sagte Kurti. In der Diskussion auf die immer noch starke Abwanderung angesprochen, verwies er auf Tendenzen zur Rückkehr oder zu einem mobilen Leben an mehreren Orten. Sein Aufenthalt in der Schweiz diente übrigens vor allem der Kontaktnahme mit Vertretern von Unternehmen und der Werbung um Investitionen, wobei gerade auch Schweiz-Kosovaren im Blick waren. In Bern wurde er von Bundesrat Guy Parmelin und einer Gruppe von Parlamentariern empfangen.

Serbien als Hauptproblem

Den Weg Kosovos in die EU (der von fünf Mitgliedern nicht anerkannte Staat ist «potenzieller» Beitrittskandidat) sieht Kurti besonders durch Serbien erschwert. Dessen Regime unter Präsident Aleksandar Vucic scheine zwischen West und Ost, EU und BRICS, Demokratie und Autokratie zu schwanken, habe sich aber in Wirklichkeit entschieden (im negativen Sinn). Pristina wirft Belgrad vor, die im Februar 2023 in Ohrid vereinbarte faktische Anerkennung des neuen Staats, einer ehemaligen Provinz von Serbien, zu verweigern, namentlich dem Beitritt zu multilateralen Organisationen zu opponieren und die territoriale Integrität zu missachten. Kosovo seinerseits hat die Zusage einer gewissen Selbstverwaltung für die serbische Minderheit im Land noch nicht erfüllt und bekommt deswegen Druckmittel der EU zu spüren. Kurti zweifelt am Willen der serbischen Elite zu positiven Veränderungen. Jener Staat sei eine Gefahr für alle Nachbarn, die wie Kosovo, Bosnien-Herzegowina und Montenegro einem Grossserbien, heute «serbische Welt» genannt, im Weg stünden.

In der Diskussion fragte Andreas Ernst mehrmals nach, ob die Regierung in Pristina den serbischen Mitbürgerinnen und Mitbürgern nicht etwas bieten sollte, besonders nachdem sie von Serbien unterhaltene Einrichtungen ersatzlos geschlossen habe. Nach Kurti liegt das Problem nicht bei einer mangelhaften Integration in den kosovarischen Staat, sondern beim Versuch Belgrads, die Minderheit von diesem zu trennen. Er verwies etwa auf den Status des Serbischen als Amtssprache Kosovos sowie auf Sonderrechte einzelner Kommunen, insistierte aber darauf, dass der geforderte Gemeindeverband im Rahmen der Verfassung bleiben müsste, also nur eine Art koordinierende Funktion erhalten könnte. Zudem hätte im Gegenzug Belgrad die Existenz Kosovos anzuerkennen.

Interesse des demokratischen Europas

Die machtpolitische Konstellation erscheint komplex und auch ambivalent. Kurti wies einerseits darauf hin, dass Russland kulturell wie auch militärisch und China mit Investitionen in destabilisierender Weise auf Serbien Einfluss nähmen und Abhängigkeiten erzeugten. Anderseits ordnete er den Staat geopolitisch dem Westen zu und kritisierte an der Balkanpolitik der EU, dass sie Serbien überschätze und zu sehr mit «Zuckerbrot» arbeite, während sie Kosovo als den Kleineren benachteilige. Umso mehr betonte er das wirtschaftliche und sicherheitspolitische Interesse der EU, den Westbalkan als souveränen Teil – kein Spielfeld der Mächte – voll zu integrieren; dadurch würde die Europäische Union Europa.
Unterstützung erhofft sich der Premierminister Kosovos bei diesem Unterfangen auch von der Schweiz – die in Brüssel allerdings keine Stimme hat. Es fehlte nicht der Hinweis auf die menschlichen Verbindungen und die gemeinsamen Werte einschliesslich des Multilateralismus, nebst der Erinnerung an Bundesrätin Micheline Calmy Rey, die schon von Kosovos Unabhängigkeit gesprochen habe, bevor diese 2008 ausgerufen worden sei. Die russische Aggression gegen die Ukraine habe ein neues Kapitel eröffnet, sagte Kurti. Es gelte nun, an den Kontinent zu denken und unter den Staaten, die an Demokratie, Rechtsstaat und Menschenrechte glaubten, eine Solidarität zu entwickeln, die stärker sei als der Zusammenhalt der Autokraten.

 

#Europa #Schweizer Aussenpolitik

Das Referat

Espresso Diplomatique

Kurz und Kräftig. Die wöchentliche Dosis Aussenpolitik von foraus, der SGA und Caritas. In der Ausgabe Nr. 466, November 2024,  steht die Migrationsvereinbarung der EU mit Tunesien im Fokus. Zahlreiche Flüchtlinge sind unmenschlichen Bedingungen und Abschiebungen in Wüstengebiete ausgesetzt, was zu Spannungen auf der geopolitischen Ebene führt.   Espresso Nr. 466 | 19.11.2024  

Eine Aussenpolitik für die 
Schweiz im 21. Jahrhundert

Neue Beiträge von Joëlle Kuntz (La neutralité, le monument aux Suisses jamais morts) sowie von Martin Dahinden und Peter Hug (Sicherheitspolitik der Schweiz neu denken - aber wie?)

Livre (F), Book (E), Buch (D)

Zu den Beiträgen

Schweiz im Sicherheitsrat

Das Schweizer Mandat im UNO-Sicherheitsrat (2023 und 2024) fällt in turbulente Zeiten, der Rat hat Schwierigkeiten, in den grossen Fragen Entscheide zu fällen. Jeden Samstag fassen wir das Ratsgeschehen und die Haltung der Schweiz zusammen.

Infoletter «Schweiz im Sicherheitsrat» abonnieren Alle Berichte FAQ – Schweiz im Sicherheitsrat